In einer Auktion bestimmt das höchste Gebot auf der Nachfrageseite den Gleichgewichtspreis, der den Markt räumt. An der Strombörse, gilt das aber nicht.
Preise bilden sich bekanntlich auf Märkten durch das Aufeinandertreffen von Angebot und Nachfrage. Mit diesem Satz lernen die Erstsemester in VWL, BWL, Wirtschaftswissenschaften und ihren anverwandten Disziplinen üblicherweise den modelltheoretischen Preisbildungsmechanismus kennen. An diesem Satz ist auch gar nichts auszusetzen. Nur gibt er leider nicht die geringste Auskunft darüber, nach welchen Regeln das Angebot und die Nachfrage an den Märkten aufeinandertreffen. Diese Regeln unterscheiden sich nämlich von Markt zu Markt und sie spielen eine zentrale Rolle bei der Preisbildung. Sieht der Markt bspw. vor, dass der Gleichgewichtspreis in einem Auktionsverfahren gebildet wird, braucht der einzelne Anbieter kein Gebot abzugeben, es sei denn natürlich, er will einen Mindestpreis erzielen. Stattdessen sind es die einzelnen Nachfrager, die Gebote abgeben und sich damit solange überbieten, bis irgendwann ein Höchstgebot erreicht ist, das dann den Zuschlag erhält. Dieses Höchstgebot auf der Nachfrageseite ist der Gleichgewichtspreis, der den Markt räumt. So sind die Regeln. An der »European Energy Exchange«, also an der Strombörse in Leipzig, begegnen sich Anbieter und Nachfrager ebenfalls in Auktionsverfahren. Nur dass dort eine völlig andere Regel gilt. Diese Regel, sie hat sogar einen eigenen Namen, heißt: »Merit Order«. Was das für eine Regel ist, welche Mechanik sie entfaltet und welche Wirkung diese Mechanik im Einzelnen auf die Preisbildung hat, darum soll es in diesem Beitrag gehen.
Die »Merit Order« und die regulatorischen Eingriffe des Staates in den Markt verzerren die Strompreisbildung.
Strom ist ein Gut, das gehandelt wird, wie jedes andere Gut auch. Strom wird verkauft und gekauft. Mit dem Unterschied, dass man Strom nicht im Laden um die Ecke kaufen kann, sondern zum Stromanbieter gehen muss. Davon gibt es in Deutschland vier große (E.ON, RWE, EnBW & Vattenfall) und jede Menge kleine. So, wie man Brötchen direkt beim Bäcker oder Kartoffeln direkt beim Bauern kaufen kann, kann man auch Strom »over the counter«, sprich direkt beim Produzenten kaufen. Zusätzlich wird Strom aber auch auf einer zentralen Handelsplattform angeboten und nachgefragt, an der Strombörse nämlich. Eine Börse ist nichts anderes als ein Markt, so, wie der Wochenmarkt, den es zumeist am Wochenende in vielen Städten gibt, nur werden an der Börse keine landwirtschaftlichen Produkte gehandelt, wie man das vom Wochenmarkt kennt, sondern Kontrakte, also Rechte. Halten wir fest, die Strombörse ist ein Markt auf dem Strom gehandelt wird. Und zwar nur Strom, sonst nichts. Insoweit unterscheidet sich die Strombörse auch von einer Wertpapierbörse, auf der die Wertpapiere von Unternehmen nicht nur einer, sondern aller Branchen gehandelt werden; aber das sei hier nur am Rande erwähnt. Nun sollte man meinen, dass sich der Strompreis an der Strombörse genauso bildet, wie der Aktienkurs eines Wertpapiers an der Wertpapierbörse, dass die jeweiligen Auktionsverfahren also methodisch identisch sind. So ist es aber nicht. Und das liegt ganz allein an der »Merit Order«, die man an einer Wertpapierbörse gar nicht kennt.
Um die Mechanik dieser geheimnisvollen Regel verstehen zu können, muss man sich zunächst zwei Dinge in Erinnerung rufen: Erstens, dass an der Strombörse nicht die Nachfrageseite Gebote abgibt, sondern die Angebotsseite. Ein wichtiger Unterschied zu den üblichen Auktionsverfahren, wie man sie auch von Kunstauktionen her kennt, z. B. bei so berühmten Häusern wie Christies oder Sotherby's. Und zweitens muss man sich in Erinnerung rufen, dass es bei der Stromerzeugung gewaltige Unterschiede gibt. Strom kann man bspw. mit Kernenergie erzeugen, mit Braunkohle oder mit Steinkohle, mit Öl, mit Wasserkraft, mit Erdgas oder Biomasse und bedingt auch mit der Sonne bzw. mit Wind (Onshore/Offshore), um nur einige der gängigsten Produktionsmethoden zu erwähnen. Nun verhält es sich so, dass sich die Grenzkosten der Stromerzeugung in Abhängigkeit der jeweiligen Produktionsmethode signifikant voneinander unterscheiden. So sind die Grenzkosten der Stromerzeugung aus Photovoltaik- oder Windkraftanlagen bspw. am niedrigsten und damit auch niedriger, als bei der Stromerzeugung aus Kernkraftanlagen. Die Grenzkosten der Stromerzeugung aus Kernkraftanlagen ihrerseits sind wiederum niedriger als bei der Stromerzeugung im Braun- oder Steinkohlekraftwerk. Und die Grenzkosten der Stromerzeugung mit Braun- und Steinkohle sind niedriger als die Grenzkosten der Stromerzeugung mit Gasturbinen usw. Am höchsten sind die Grenzkosten der Stromerzeugung, wegen des niedrigen Wirkungsgrades, bei der Verarbeitung von Schwer-/Heizöl. Die »Merit Order« verlangt nun, dass das Stromangebot bei einer Auktion zum Zwecke der Preisbildung in aufsteigender Reihenfolge sortiert wird. Zuerst kommen also die Stromerzeuger mit den niedrigsten Grenzkosten an die Reihe und dürfen ein Gebot abgeben, unmittelbar danach sind die Stromerzeuger mit den zweitniedrigsten Grenzkosten dran und geben ein Gebot ab, dann die Stromerzeuger mit den drittniedrigsten Grenzkosten und immer so fort, so dass die Stromerzeuger mit den höchsten Grenzkosten erst ganz am Schluss ein Gebot abgeben dürfen, und also an der Auktion nur dann teilnehmen, wenn die Nachfrage nicht vorher schon mit den Geboten der billigeren Anbieter befriedigt werden konnte.
Die »Merit Order« legt also die Reihenfolge fest, in der die Erzeuger ihren Strom und auch den Preis dazu an der Strombörse anbieten dürfen. Der billigste Stromerzeuger darf als Erster sein Angebot abgeben, der teuerste als Letzter. Das ist aber noch nicht alles. Die »Merit Order« verlangt ebenfalls, dass der Preis des jeweils teuersten Stromerzeugers, der an einer Auktion teilgenommen hat, für die angebotenen Strommengen aller anderen Stromerzeuger gilt, die ebenfalls ein Verkaufsgebot abgegeben haben. Das heißt, obwohl an der Auktion Stromanbieter teilgenommen haben, die zu deutlich niedrigeren Grenzkosten produzieren und infolgedessen niedrigere Preise bieten konnten, verkaufen alle Anbieter ihren Strom letztendlich zu einem Preis, den sie nicht bestimmt haben, sondern der letzte und damit der teuerste Anbieter. Machen wir ein einfaches Beispiel: Nehmen wir an, die Nachfrage nach Strom an einem bestimmten Handelstag ist entsprechend groß, so dass das Stromangebot aus Sonne und Wind, aus Wasserkraft und Kernenergie, Braun- und Steinkohle nicht ausreicht, um sie zu bedienen. Es müssen also Gaskraftwerke zugeschaltet werden, eine Produktionsmethode mit sehr hohen Grenzkosten, höher als die Grenzkosten aller anderen Anbieter an diesem Handelstag. Dann wird der Strom an diesem Handelstag zum Preis des letzten Anbieters, nämlich des Gaskraftwerks, und damit des teuersten Stromerzeugers gehandelt. Die jeweils deutlich niedrigeren Gebote der übrigen Anbieter fließen in die Preisbildung gar nicht erst ein und spielen damit faktisch keine Rolle. Der Mechanismus der »Merit Order« bewirkt folglich, dass sich an der Strombörse ein Einheitspreis bildet, den einzig und allein der jeweils teuerste Stromanbieter bestimmt.
Der Mechanismus der »Merit Order« bewirkt, dass sich an der Strombörse ein Einheitspreis bildet, den einzig und allein der jeweils teuerste Stromanbieter bestimmt.
Übertragen wir die »Merit Order« spaßeshalber einmal auf den Wochenmarkt und verdeutlichen die Verzerrung der Preisbildung am Beispiel eines Kunden, der zehn Äpfel kaufen möchte. Der Kunde geht also zu einem Bauern, der auf dem Wochenmarkt seine Äpfel zum Verkauf anbietet und sagt: »Zehn Äpfel bitte«. Der Bauer antwortet: »Von den preiswerten Äpfeln, zu je 0,50€ das Stück, habe ich nur noch neun. Ich kann Ihnen aber noch einen von den teuren Äpfeln verkaufen, zu je 5,00€ das Stück.« Zähneknirschend stimmt der Kunde zu, weil es unbedingt zehn Äpfel sein müssen, die er für ein bestimmtes Rezept braucht. Der Kunde geht davon aus, dass er insgesamt 9,50€ bezahlen muss, er rechnet also 0,50€ x 9 plus 5,00€ x 1. Diese Rechnung hat er aber ohne den Bauern gemacht. Der nämlich will für die zehn Äpfel 50,00€ haben. In Anwendung der »Merit Order« rechnet der Bauer folglich 5,00€ x 10. Der teuerste Stückpreis für Äpfel auf der Angebotsseite, im Beispiel also der Stückpreis für den letzten Apfel, bestimmt nach der Merit Order den Einheitspreis für alle Äpfel auf der Angebotsseite. Die Mechanik dieser Regel verzerrt also den Gleichgewichtspreis in einem Markt, auf dem nicht genügend preiswerte Äpfel angeboten werden, um die Nachfrage zu bedienen.
Zu einem Politikum wird die »Merit Order« spätestens dann, wenn der Staat regulatorisch in den Markt eingreift und preiswerte Stromerzeuger auf der Angebotsseite, wie z. B. Kernkraftwerke, einfach abschaltet. Nicht, dass es hierzulande ein rationales Argument dafür gäbe, es geschieht aus rein programmatisch-ideologischen Gründen. Tatsächlich ist die Energiepolitik in Deutschland inzwischen nur noch irrational und kontraproduktiv. Insgesamt sind gegenwärtig gerade einmal drei Reaktoren am Netz. Und sogar die will die amtierende Bundesregierung per 31. Dezember 2022 abschalten. Für preiswerten Ersatz hat der Staat bislang aber nicht gesorgt. Ein Staatsversagen, für das die amtierende Bundesregierung keineswegs allein die Verantwortung trägt. Auch die Vorgängerregierung unter Bundeskanzlerin a.D. Dr. Angela Merkel hat dieses Versagen ganz maßgeblich mitzuverantworten. Als unmittelbare Folge dieses Staatsversagens müssen schon heute immer häufiger teure Gaskraftwerke zugeschaltet werden, damit die Nachfrage an der Strombörse bedient werden kann. Das Ergebnis sowohl der Energiepolitik, als auch des Preisbildungsmechanismus an der Strombörse ist eine politisch herbeigeführte Inflationierung der Strompreise in noch nie dagewesenem Ausmaß. Wie die nachfolgende Infografik zeigt, hatte Deutschland bereits vor einem Jahr, also 2021, die höchsten Strompreise für Haushaltskunden (inkl. Steuern und Abgaben) in der gesamten Eurozone.
Diese Situation hat sich im Jahre 2022 noch weiter verschärft, weil die Bundesregierung unter Bundeskanzler Olaf Scholz gegen Russland, einem Gasexporteur, Wirtschaftssanktionen verfügte, deren unmittelbare Folge nicht nur die Nichtöffnung der Pipeline Nord Stream 2, sondern auch die vollständige Schließung der Pipeline Nord Stream 1 war—eine weitere Verknappung der Angebotsseite. Für die Stromerzeuger hierzulande ist die »Merit Order« ein wahrer Segen, denn im Kontext der aktuellen Energiepolitik ist sie der Garant schlechthin für hohe Strompreise. Für die privaten Haushalte vor allem, aber auch für den Mittelstand ist sie ein regelrechter Fluch, denn Strom werden beide schon bald nicht mehr bezahlen können. Weder der Bundeskanzler noch sein Vize erwecken derzeit den Anschein, als habe man das Problem in Berlin verstanden. Eine Reform der Merit Order jedenfalls ist weit und breit nicht in Sicht. In Berlin bemühte man sich bislang eher um Gas aus Katar und mit europäischer Hilfe sogar um Gas aus Aserbaidschan, beides Staaten, in denen Menschenrechte mit Füßen getreten werden.
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