Menschliche Organe sollen als gespendet gelten, obwohl sie kein Mensch gespendet hat: Ein Valet an die Solidargemeinschaft, ein Türöffner für die »Narzisstische Gesellschaft«.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will die Zahl der Organspender erhöhen. Zu diesem Zwecke beabsichtigt er einen Weg zu wählen, an dessen Ende menschliche Organe per Rechtsfiktion als gespendet gelten, obwohl sie der vermeintliche Spender zu keinem Zeitpunkt willentlich gespendet hat. Ein derartiger Eingriff in den Körper eines Staatsbürgers durch den Staat selbst, weckt unweigerlich Assoziationen an einen Obrigkeitsstaat, den wir längst als überwunden geglaubt hatten.
Im Königreich Preußen gab es vieles, was damals völlig normal war, für uns heute aber, im Rückblick betrachtet, mit dem Prädikat »aus der Zeit gefallen« versehen und von unserer Gesellschaft abgelehnt werden würde. Eine einzige Absonderlichkeit aber hat die Zeit überdauert und ist uns bis heute tatsächlich erhalten geblieben. Die sogenannte Rechtsfiktion. Ihre Bedeutung versteht man allerdings nur am Beispiel der Preußischen Bademeisterverordnung.
Die Preußische Bademeisterverordnung galt für alle öffentlichen Badeanstalten und trug dem Umstand Rechnung, dass sich die Geschlechter streng getrennt voneinander zu entkleiden bzw. umzukleiden hatten und es Herren bei Strafe verboten war eine Damenkabine zu betreten. Weil der Bademeister einer Preußischen Badeanstalt jedoch immer männlichen Geschlechts war und es natürlich zu seinen arbeitsrechtlichen Pflichten gehörte auch in den Damenkabinen nach dem Rechten zu sehen, stand in der Verordnung der Satz: »Der Bademeister gilt auch als Dame im Sinne der Verordnung.« Voilà, Problem gelöst. Aus einem Herr wurde auf dem Papier eine Dame. Und zwar per Rechtsfiktion. Möglich machte es das ziemlich unscheinbare Wort »gilt«. Im Ergebnis heißt das, der preußische Staat hatte sich die Realität so zurecht gebogen, dass am Ende das herauskam, was auf natürlichem Wege nie herausgekommen wäre, aber eben herauskommen sollte.
»Der Bademeister gilt auch als Dame im Sinne der Verordnung.«
Geht es nach dem Willen des amtierenden Ministers für Gesundheit, Jens Spahn, sollen künftig alle Menschen hierzulande per Rechtsfiktion als Organspender gelten, wenn sie nicht vorher ausdrücklich einer Organspende widersprochen haben (sog. »Widerspruchslösung«). Das ist die Wiedergeburt der Preußischen Bademeisterverordnung in neuem Gewand. Nur werden die Konsequenzen, wenn sich Spahn durchsetzen sollte, ungleich weiter reichen und auch schwerer wiegen als jene seinerzeit. Während der Blick des Bademeisters in die Damenkabine in jedem Fall ohne körperliche Folgen für die unter Umständen darin befindliche Kundin blieb, würden künftig einem Menschen Organe entnommen. Und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil selbiger zu keinem Zeitpunkt eine gleichlautende Willenserklärung abgegeben hat.
Zu schweigen, sich nicht zu äußern, einen Willen nicht zu artikulieren, sondern den Zeitpunkt der Willensäußerung uneingeschränkt selbst bestimmen zu können, ist ein zentrales Charakteristikum eines auf einer freiheitlichen Grundordnung basierenden Rechtsstaates. Im Gesellschaftsvertrag von Jean-Jacques Rousseau heißt es: »Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.« Von Gesetzen kann eine befreiende Wirkung aber immer nur dann ausgehen, wenn die ihnen zugrunde liegende Rechtsordnung auf Dauer angelegt ist. Nur dann empfinden Staatsbürger das, was man gemeinhin als Rechtssicherheit bezeichnet. Und Rechtssicherheit wiederum ist notwendig, um Vertrauen in den Staat und seine Institutionen zu schaffen und zu erhalten und ihn dadurch als Inhaber des Gewaltmonopols in der Bevölkerung zu legitimieren. Sollte stattdessen die Spahn'sche Spendendoktrin verabschiedet werden, wird es künftig das Gesetz sein, das unterdrückt und die Gesetzlosigkeit, die befreit. Weder im Bundesgesundheitsministerium noch im Bundeskanzleramt scheint man sich der Signalwirkung bewusst zu sein, die mit einer solchen Doktrin einhergeht.
»Die Widerspruchslösung ist kein staatlicher Eingriff mehr, sie ist ein staatlicher Übergriff.«
Die sog. »Widerspruchslösung«, sie ist in Wahrheit ein totalitäres Machtinstrument, weil sie den unserer Rechtsordnung innewohnenden Akt der Willenserklärung zuerst in sein Gegenteil verkehrt und dann die Abwesenheit eines erklärten Willens mit einer Rechtsfolge verbindet, die unmittelbar gegen jene gerichtet ist, die sich gerade nicht erklärt haben. Nach der Spahn'schen Doktrin bewirkt also nicht aktives Handeln eine Rechtsfolge, sondern aktives Handeln ist erforderlich, um eine Rechtsfolge rechtswirksam abzuwenden. Damit ist die Widerspruchslösung kein staatlicher Eingriff mehr, sie ist ein staatlicher Übergriff. Und zwar in den intimsten Bereich des Menschen: den eigenen Körper. In besonderem Maße moralisch verwerflich sind vor allem die äußeren Umstände, während derer ein solcher Übergriff materiell vollendet werden soll. Nämlich wenn der durch Schweigen zum Spender mutierte Staatsbürger in einem Spital liegt, seine Vitalfunktionen von Apparaten übernommen worden sind und es ihm in dauerhafter Ermangelung seiner eigenen Rechtsfähigkeit objektiv unmöglich geworden ist, von seinem Schweigen zurück zu treten. Eine Patientenverfügung beispielsweise muss regelmäßig erneuert werden, um sicherstellen zu können, dass sich der einst verfügte Wille nicht inzwischen geändert hat. Wie aber lässt sich Schweigen regelmäßig erneuern? Ganz recht: Überhaupt nicht! Tatsache ist aber, nach der Widerspruchsdoktrin ist einmaliges Schweigen geeignet, um lebenslangen Spenderstatus zu bewirken.
Solidargemeinschaft versus »Narzisstische Gesellschaft«
Gesellschaftsordnungen besitzen weltweit gerade einmal zwei Ordnungsmechanismen. Sie können belohnen oder bestrafen. Mehr ist nicht drin. Zu mehr taugen sie nicht. Mehr müssen sie aber auch nicht können, um einzelne Menschen darin zu bestätigen bzw. zu ermahnen, nicht alleine, sondern Teil einer Solidargemeinschaft zu sein und insoweit passive Verantwortung zu übernehmen. Welche von diesen beiden Mechanismen werden die Bürgerinnen und Bürger hierzulande wohl am ehesten mit einem übergriffigen Staat assoziieren? Einem Staat, der den Mensch zu einem Objekt herabwürdigt. Einem Staat, der in seinen Rechtsunterworfenen nicht länger soziale Wesen und die ihnen durch Erziehung/Sozialisation anerzogene bzw. vermittelte gesellschaftliche Verantwortung erkennen will, sondern längst dazu übergegangen ist, deren systemische Funktionalisierung zu betreiben und zu optimieren. Einem Staat, der, weil es die Globalisierung erfordert, nicht mehr Gesetzgeber sein will, sondern Chief Executive Officer―sprich eine Art Gesellschaftsmanager―, und der seine staatlichen Pflichten zunehmend darin sieht, den humanoiden Funktionskatalog seiner Bürgerinnen und Bürger den jeweils gegebenen Marktbedürfnissen anzupassen. Weil die Nachfrage nach Organen naturgemäß größer ist als das Angebot, wird der Katalog eben erweitert. Neben der Steuerzahlerfunktion, der Konsumentenfunktion, der Nachwuchssicherungs- und Erzieherfunktion, der Altersrententrägerfunktion, der Investment- und Geschäftsbankenretterfunktion, der Eurozonenretterfunktion, der Arbeiten-für-Dumpinglöhne-Funktion, der »Refugees Welcome«-Funktion etc. wird den Staatsbürgern in Deutschland mal eben flugs noch die Funktion eines humanoiden Organinkubators übertragen.
Konsequenterweise müsste der 19. Deutsche Bundestag das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ändern. Art. 1 GG sollte nicht länger »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« lauten, sondern: »Die Würde des Menschen ist unantastbar; dies gilt nicht für dessen Organe.«. Und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (»Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.«) sollte im Geiste einer Lex Spahn besser geändert werden in: »Vorbehaltlich einer abweichenden Regelung hat jeder das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit; näheres bestimmt ein Gesetz.«. Die Widerspruchsdoktrin ist von allen Dogmen in der Geschichte des Rechts der Bundesrepublik Deutschland, also seit 1949, vermutlich die einzige, aufgrund derer der Mensch mit staatlicher Billigung zu einer »Non Emotional Response Devise (NERD)« mutiert. Eine Solidargemeinschaft kann unter diesen Umständen nicht länger funktionieren. Eine Perpetuierung derselben ist im Nachgang einer Reform à la Jens Spahn daher aller Wahrscheinlichkeit nach am wenigsten zu erwarten. Zumal das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Staat und seine Institutionen seit über zehn Jahren bereits―seit Ausbruch der Banken- und Finanzmarktkrise 2007/08 nämlich―immer wieder aufs Neue zutiefst erschüttert wurde und vermutlich für nicht wenige Mitbürgerinnen und Mitbürger inzwischen unwiederbringlich verloren gegangen ist. Die Frage, ob sich der Steuerzahler auf den Staat heutzutage noch verlassen kann, lässt sich kurz und bündig beantworten: Nein! »Verlass dich auf dich selbst, sonst bist du verlassen«, lautet der neue Imperativ im 21. Jahrhundert. Ein Hoch auf die »Narzisstischen Gesellschaft«.
»Die Würde des Menschen ist unantastbar; dies gilt nicht für dessen Organe.«
Rosa Luxemburg wird der Satz »Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden« zugeschrieben. Interpretiert man diesen Satz demokratisch, was gar nicht im Sinne seiner Urheberin war, lässt er sich in den Geist Immanuel Kant's einreihen. Ähnlich wie übrigens jener rhetorische Appell, den John F. Kennedy einst bei seinem Amtsantritt an das amerikanische Volk richtete und wonach sich der Einzelne nicht fragen solle, was der Staat für ihn tun könne, sondern―im Gegenteil―jeder dazu aufgerufen sei, sich zu fragen, was er für die Freiheit tun könne. Ein solch kollektiver Freiheitsbegriff scheint uns längst abhanden gekommen zu sein. Freiheit wird heutzutage eher als absolute und individuelle Sollgröße determiniert. Etwa im Sinne: »Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an jeden gedacht«. Die Politik des Bundesgesundheitsministers wird maßgeblich dazu beitragen, dass aus diesem grotesken Missverständnis der neue gesellschaftliche Standard wird. Sollte ich recht behalten, laufen dann beinahe alle in diesem Land mit einem Organspendeausweis in der Hosentasche umher. Und die meisten werden darauf vermerken, dass sie einer Organspende ausdrücklich widersprechen. Wie Jens Spahn dem Nachfrageüberhang dann zu Leibe rücken will, bleibt abzuwarten.
Wer stattdessen tatsächlich Organspender werden möchte, dem sei schon jetzt der Organspendeausweis der »Evangelischen Frauen in Deutschland e.V.« empfohlen. Ein Link zum Download befindet sich hier:
Dieser Ausweis unterscheidet sich signifikant von allen anderen derzeit in Umlauf befindlichen Spenderausweisen, weil er im Text zwischen Tod und Hirntod differenziert.
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