Der Bonner Philosoph Markus Gabriel, Mitbegründer des sog. »Neuen Realismus«, hatte im Jahre 2020 nachgelegt. Nach seiner Philosophie sind Fiktionen real und also in der Welt.
In seinem Buch »Fiktionen« widmet sich Markus Gabriel der Frage, was Fiktionen sind, und erkundet deren Rolle und Einfluss auf unser Verständnis von Realität. Gabriel führt den Leser durch verschiedene Dimensionen des Fiktiven, von literarischen und künstlerischen Fiktionen über wissenschaftliche Theorien bis hin zu sozialen Konstrukten, und entwickelt dabei ein differenziertes Bild davon, wie Fiktion und Realität interagieren. Sein Ziel ist es, die Ontologie der Fiktion zu ergründen und zu klären, in welchem Verhältnis das Fiktive zur Wirklichkeit steht – und welche Folgen dies für unser Verständnis von Wahrheit und Existenz hat.
Eine der zentralen Thesen Gabriels ist, dass Fiktionen keineswegs nur einfache »Nicht-Wahrheiten« oder Illusionen sind, sondern dass sie eigenständige, spezifische Sinnfelder eröffnen, in denen sie existieren und Bedeutung gewinnen. So besitzen fiktionale Figuren wie Sherlock Holmes oder Ereignisse aus literarischen Welten eine eigene »Seinsweise«, die nicht einfach mit realen Entitäten zu verwechseln ist, aber dennoch eine reale Rolle in unserer Vorstellungswelt und kulturellen Praxis spielt. Gabriel argumentiert, dass Fiktionen eine Art von Realität haben, die ihre Kraft aus ihrer Fähigkeit bezieht, bestimmte Aspekte der Welt auszuleuchten oder zu reflektieren. Dadurch wird Fiktion zu einer produktiven und oft notwendigen Komponente unseres Weltverständnisses.
Ein weiteres zentrales Argument in »Fiktionen« ist Gabriels Widerstand gegen die radikalkonstruktivistische Auffassung, dass alles Wissen und alle Realität durch soziale Konstruktionen oder Diskurse hervorgebracht würden. Gabriel plädiert dafür, zwischen »erfundenen« und »entdeckten« Tatsachen zu unterscheiden. Er kritisiert, dass der gegenwärtige Zeitgeist dazu neige, alle Formen von Wissen als Fiktionen zu behandeln und damit ein allzu relativistisches Weltbild zu fördern. Für Gabriel ist es entscheidend, dass wir die Unterscheidung zwischen dem, was wirklich existiert, und dem, was lediglich konstruiert oder fiktional ist, ernst nehmen, um ein fundiertes Verständnis von Wahrheit zu bewahren.
Im letzten Abschnitt des Buches wird deutlich, wie eng Gabriels Überlegungen zu Fiktionen mit seinem Konzept des »Neuen Realismus« verbunden sind. Der Neue Realismus besagt, dass es eine von uns unabhängige, objektive Realität gibt, die nicht erst durch unsere Wahrnehmung oder sprachliche Konstruktion »real« wird. Für Gabriel existiert die Welt in »Sinnfeldern«, die sich teilweise überschneiden, in denen das Reale neben dem Fiktiven eine gleichwertige Präsenz hat. Seine Ontologie geht davon aus, dass Realität vielfältig und unerschöpflich ist und dass unser Zugang zu ihr immer durch bestimmte Kontexte (wie Kultur, Sprache oder Medien) beeinflusst wird, ohne dass dadurch die Realität selbst aufgelöst oder bedeutungslos wird. Fiktionen sind in Gabriels Ansatz keine bloßen Hirngespinste, sondern reale Phänomene, die uns helfen, die komplexen Ebenen und Facetten der Wirklichkeit besser zu verstehen und zu reflektieren.
Abschließend ist »Fiktionen« ein eindrucksvolles Werk, das nicht nur Gabriels Theorien zum Neuen Realismus vertieft, sondern auch spannende Einsichten zur Rolle des Fiktiven im menschlichen Leben bietet. Gabriel fordert seine Leser auf, das Verhältnis zwischen Realität und Fiktion differenziert zu betrachten und sich von simplifizierenden Vorstellungen zu lösen. Sein »Neuer Realismus« liefert dafür die Grundlage: eine Philosophie, die anerkennt, dass die Welt unabhängig von uns existiert, jedoch in verschiedenen Sinnfeldern erscheint, die in ihrem Zusammenspiel eine unvergleichliche Tiefe und Vielfalt erzeugen.
Fiktionen von Markus Gabriel ist im Jahre 2020 bei Suhrkamp erschienen und kostet 32,00 €.
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