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  • AutorenbildMarko Thomas Scholz

Die Tyrannei der 26

Spaltung, Inkompetenz und Interessenkonflikte im Deutschen Ethikrat. Ein zentraler, gemeinsamer europäischer Wert ist in Gefahr: die Nichtdiskriminierung—Ein Essay


Der Deutsche Ethikrat spricht sich in seiner jüngsten Stellungnahme vom 22. September 2020 gegen die Einführung einer Immunitätsbescheinigung aus—soweit, so richtig. Trotzdem müsste diese Stellungnahme bei jedem hierzulande blankes Entsetzen auslösen. Stattdessen hat es den Anschein als würde sich niemand dafür interessieren, was die Regierungsberater niedergeschrieben haben. Einen kollektiven Aufschrei hat es jedenfalls seit Verlautbarung der Stellungnahme nicht gegeben, nicht von den Oppositionsparteien, nicht von der Presse und, was völlig unbegreiflich ist, auch nicht von Interessenverbänden, NGOs oder Kirchenvertretern. Es herrscht absolute Funkstille. Als hätte der Ethikrat nie etwas gesagt. Als würde es diese Stellungnahme gar nicht geben. Fände man den Gedanken nicht so abstoßend, müsste man annehmen, hier soll etwas vertuscht werden, was eigentlich schon in der Welt ist. Und wie macht man das am besten? Man schweigt, in der Hoffnung, dass sowieso keiner mitbekommen hat, was genau da beim höchsten Beratergremium in Sachen Ethik vom Stapel gelaufen ist.


Der vorliegende Beitrag will Abhilfe schaffen und Öffentlichkeit herstellen. Und zwar gleich in zweifacher Weise. Zum einen soll dem Leser aufgezeigt werden, dass der Deutsche Ethikrat in seiner fachlichen Expertise tief gespalten ist. Zum anderen soll im Wege einer Analyse der zuletzt verlautbarten Empfehlungen ein begründeter Verdacht erhoben werden. Und zwar der Verdacht, dass zwölf der Ratsmitglieder in Fragen der Sozialethik inkompetent sind. In der Stellungnahme des Deutschen Ethikrats stehen Sätze, mit denen man, sollte die Bundesregierung je auf die Idee kommen selbige in Regierungshandeln zu übersetzen, eine Tür öffnen kann. Eine Tür, die man besser nicht aufmachen sollte. Denn wenn sie erst einmal offen ist, lässt sie sich so schnell nicht wieder schließen.



Seit 2001 leistet sich die Bundesrepublik Deutschland einen unabhängigen Sachverständigenrat zur Begutachtung von Fragen der Ethik, seit 2008 trägt er die Bezeichnung »Deutscher Ethikrat«. Ihm voran ging der sog. »Nationale Ethikrat Deutschlands«. Den 26 Mitgliedern des Deutschen Ethikrats—tatsächlich sind zur Zeit nur 24 Mitglieder im Amt—, obliegt die Aufgabe, ethische, gesellschaftliche, naturwissenschaftliche, medizinische und rechtliche Fragen zu erörtern, soweit sich daraus voraussichtlich Folgen für die Individuen in unserer Gesellschaft bzw. für unsere Gesellschaft als Ganzes ergeben. Thematisch konzentriert sich das Beratergremium dabei vor allem auf die Forschungen und Entwicklungen auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften sowie deren Anwendung auf den Menschen. Rechtsgrundlage für die Errichtung des Ethikrats ist das »Gesetz zur Einrichtung des Deutschen Ethikrats (Ethikratgesetz - EthRG)« vom 16. Juli 2007.



In seiner Stellungnahme vom 22. September 2020 hat sich der Ethikrat anlässlich der Verbreitung des SARS-CoV-2 Erregers, den die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in den Status einer globalen Pandemie erhoben hat, mit der Idee einer bundesweiten Einführung einer sog. »Immunitätsbescheinigung« auseinandergesetzt. Der beabsichtigte Zweck eines solchen Dokuments soll die amtliche, sprich behördliche Erfassung der personenbezogenen Immunität des jeweiligen Bescheinigungsinhabers sein. Es steht außer Frage, dass die Bundesregierung hierzulande mit der Einführung einer Immunitätsbescheinigung erstmals in die Lage versetzt werden würde, personenbezogene Rechtsfolgen weitreichender Art mit einer amtlich bescheinigten Immunität zu verknüpfen. Die Palette denkbarer ordnungspolitischer Konsequenzen ist breit und dürfte von einer generellen Befreiung von der Maskenpflicht über die uneingeschränkte Ausübung der Religionsfreiheit, die barrierefreie Ausübung der Reiseverkehrsfreiheit, die individualisierte Aufhebung der Abstandsregeln bei Versammlungen bis hin zur Freistellung von der Test- und Quarantänepflicht etc. reichen. Mit anderen Worten, einer Immunitätsbescheinigung käme im Ergebnis die Funktion zu, ihrem Inhaber trotz Pandemie einen Lebenswandel mit nur einem einzigen staatlichen Eingriff¹, statt mit einer Vielzahl, in dessen verfassungsmäßig garantierte Grundrechte zu gewähren. Eingriffe, die, seitdem der Deutsche Bundestag am 25. März 2020 eine epidemische Lage von nationaler Tragweite im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 1 IfSG festgestellt hat, irritierenderweise zur einer in weiten Teilen unserer Gesellschaft widerspruchslos hingenommenen, »neuen Normalität« geworden sind. Umgekehrt könnten (in einer Welt mit Immunitätsbescheinigung) Menschen ohne amtlich bescheinigte SARS-CoV-2-Immunität nicht in den Genuss entsprechender Befreiungsregelungen kommen, sondern wären auch weiterhin jenen repressiven Eingriffen des Staates in verfassungsmäßig garantierte Grundrechte ausgesetzt—eine Rechtspraxis, die, dies sei am Rande erwähnt, nach Ansicht namhafter Staats- und Verfassungsrechtler, wie bspw. Hans-Jürgen Papier oder Rupert Scholz, um nur zwei Juristen zu benennen, aber auch nach Ansicht des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags, schon zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr mit dem Grundgesetz vereinbar ist.


»Im Deutschen Ethikrat ist unstrittig, dass angesichts des aktuellen naturwissenschaftlich-medizinischen Sachstandes eine Einführung von Immunitätsbescheinigungen zum jetzigen Zeitpunkt nicht empfohlen werden kann.« (Ethikrat)

Bereits zu Beginn des dritten Kapitels, nicht also erst im Schlusskapitel der Stellungnahme, das dritte Kapitel trägt den richtungsweisenden Titel »Normative Positionierungen«, spricht sich der Deutsche Ethikrat gegen eine Empfehlung zur Einführung einer Immunitätsbescheinigung aus. Wer die einleitenden Worte dieses Kapitels oberflächlich liest, und obendrein ein bisschen zu sehr auf die Kapitelüberschrift schielt, immerhin unterstreicht sie den Soll-Charakter des unter ihr stehenden Textes, mag hier auf den ersten Blick Anknüpfungspunkte an die rechtsethische Auslegung des Grundgesetzes à la Hans-Jürgen Papier, Rupert Scholz et. al. erkennen. Doch der Schein trügt und zwar ganz gewaltig. Spätestens auf den zweiten Blick fällt nämlich auf, dass die unabhängigen Ethik-Berater eine Immunitätsbescheinigung keineswegs ablehnen, sondern lediglich deren Einführung nicht empfehlen. Etwas nicht empfehlen und etwas ablehnen sind aber zwei verschiedene Dinge. Wer etwas ablehnt, positioniert sich gegen das, was er ablehnt. Mit anderen Worten, ein zu evaluierender Sollzustand wird endgültig verworfen. Wer stattdessen etwas nicht empfiehlt, hat sich mitnichten gegen das positioniert, was er nicht empfehlen will. Anders gesagt, wer etwas nicht empfiehlt hält einen möglichen Sollzustand weiterhin für möglich, assoziiert mit ihm aber Umweltbedingungen, die er im Evaluationszeitpunkt nicht zu beobachten vermag und nur deshalb keine Empfehlung ausspricht. Hier einige Beispiele zum besseren Verständnis:

 

(a) Ein Arzt kann seiner schwangeren Patientin ein zugelassenes Medikament nicht für therapeutische Zwecke empfehlen, weil es sehr starke Nebenwirkungen verursacht und den heranwachsenden Embryo schädigen könnte. Das Medikament selbst stellt er aber nicht infrage. Den therapeutischen Einsatz bei Männern und Frauen, sofern letztere kein Kind erwarten, lehnt er also nicht ab; (b) Die Ernährungsberaterin empfiehlt ihren Klienten nicht, jeden Tag Fleisch zu essen, sondern rät ihnen zu einer ausgewogenen Ernährung. Sie ist aber keine Vegetarierin und lehnt Fleisch als Nahrungsmittel keineswegs ab; (c) Beratungsstellen für sexuell übertragbare Krankheiten können ungeschützten Geschlechtsverkehr im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit natürlich nicht empfehlen. Gleichwohl lehnen sie es nicht ab, dass Menschen Geschlechtsverkehr haben und sich insoweit dem idiosynkratischen Risiko aussetzen Krankheiten zu übertragen; (d) Ein Rechtsstaat wie die Bundesrepublik Deutschland wird seinen Bürgerinnen und Bürgern niemals empfehlen einen anderen Menschen zu töten. Gleichwohl lehnt der Staat die Tötung von Menschen in einer unbestrittenen Notwehrsituation nicht ab, sondern schafft Rechtssicherheit, indem er per Gesetz sicherstellt, dass derjenige, der eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, nicht rechtswidrig handelt.

 

Wörtlich heißt es auf Seite 18 der Stellungnahme: »Im Deutschen Ethikrat ist unstrittig, dass angesichts des aktuellen naturwissenschaftlich-medizinischen Sachstandes eine Einführung von Immunitätsbescheinigungen zum jetzigen Zeitpunkt nicht empfohlen werden kann.« Das heißt also, der Deutsche Ethikrat hat eine Ethik erarbeitet und zur Anwendung gebracht, aufgrund derer die Einführung einer Immunitätsbescheinigung einzig und allein deshalb nicht zu befürworten ist, weil eine Immunität gegen den SARS-CoV-2 Erreger infolge des naturwissenschaftlich-medizinischen Sachstandes zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht garantiert werden kann. Das Wort »unstrittig« ist dabei besonders manipulativ, denn es insinuiert, im Ethikrat herrsche Einigkeit. Nichts dergleichen ist der Fall. Die ethischen Berater der Bundesregierung sind in Wahrheit tief gespalten. »Unstrittig« bezieht sich in der Stellungnahme lediglich auf die kollektive Erkenntnis, dass der naturwissenschaftlich-medizinische Sachstand für die regulatorischen Absichten der Bundesregierung derzeit unzureichend ist, weiter nichts. Jenseits dieses Minimalkonsenses ist im Ethikrat keine Einigkeit zu beobachten. Dies kann man schon daran erkennen, dass sich die Ratsmitglieder in zwei Lager aufgespalten haben, die sich wechselseitig derart unversöhnlich gegenüberstehen, dass es erforderlich wurde in der Stellungnahme zwei divergierende normative Positionen auszuarbeiten, statt nur einer einzigen gemeinsamen Position.

Wenn ein Sachverständigenrat gutachterliche Empfehlungen erarbeitet und ein einzelnes Mitglied oder mehrere Mitglieder eine ergänzende oder auch partiell abweichende Expertise zu einem bestimmten Thema abgeben will bzw. wollen, ist es maximal vertretbar, dass sie dies unter Nennung ihres Namens im Rahmen eines sog. »Sondervotums« am Ende der gemeinsamen Empfehlung tun. Der »Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung« beispielsweise verfährt seit Jahren nach dieser bewährten Methode. Dass aber in einer einzigen Stellungnahme gleich zwei komplette, sich inhaltlich widersprechende Empfehlungen verschriftlicht werden, ist ein ziemlich einmaliger Vorgang in der Politikberatung. Wollte man es überspitzt formulieren, müsste man sagen, eine derart ungewöhnliche gutachterliche Expertise birgt Sprengstoff in sich. Im vorliegenden Fall bedeutet es nämlich nicht nur, dass sich die Experten nicht einigen konnten. Es bedeutet vor allem, dass sich unter den Experten zwei voneinander verschiedene Ethiken ausgeprägt haben. Ethiken, aus denen sich jeweils Moralgrundsätze ableiten lassen, die miteinander nicht vereinbar sind. In der Stellungnahme werden sie als »Position A« (Seite 18 bis 30) und »Position B« (Seite 37 bis 45) bezeichnet. Wenn sich Regierungsberater nicht einigen können, ist das kaum mehr als ein Signal dafür, dass die Materie, über die sie zu befinden haben, komplex ist. Wenn Regierungsberater aber zwei sich widersprechende Machbarkeitsstudien ausarbeiten, signalisieren sie der Bundesregierung damit keineswegs, dass es mehr als eine Lösung für ein bestimmtes Problem gibt, sondern sie signalisieren, dass man sich nicht auf einen gemeinsamen Maßstab einigen konnte, welcher der dann gemeinsam zu erarbeitenden Lösung zugrunde gelegt hätte werden müssen.


Präambel zur EU-GRCharta: »Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen.«

In der Präambel zur Grundrechte-Charta der Europäischen Union heißt es: »Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen.« Wenn die Grundrechte-Charta der EU, die nicht zufällig diesen Namen trägt, gemeinsame Werte für ein friedliches Miteinander einfordert, welchen Eindruck mag man dann von der Stellungnahme eines nationalen Beratergremiums bekommen, deren Autoren sich über diese Präambel hinweggesetzt und divergierende Werte zum Fundament ihrer eigenen Beratungsleistung gegenüber der deutschen Bundesregierung gemacht haben? Diese Frage wird umso dringlicher, wenn man einen Blick in Art. 21 Abs. 1 EU-GRCharta wirft, eine Norm, die ziemlich konkret zum Ausdruck bringt, was unter gemeinsamen Werten in der Europäischen Union zu verstehen ist. Der in dieser Norm kodifizierte, gemeinsame Wert—tatsächlich ist es nur einer aus einer ganzen Palette gemeinsamer Werte—, ist die Nichtdiskriminierung. Niemand in der EU darf diskriminiert werden. Jede Ethik, die sich diesem Diktum zu entziehen versucht, hat in der EU keinen Platz. Wörtlich lautet die Vorschrift: »Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten.«



Besondere Aufmerksamkeit ist hier einem ganz bestimmten Tatbestandsmerkmal geschuldet, und zwar den »genetischen Merkmalen«, es ist das sechste von insgesamt siebzehn Tatbestandsmerkmalen in dieser Norm. Niemand in der EU darf wegen seiner genetischen Merkmale diskriminiert werden. Eine Immunitätsbescheinigung, die als Grundlage für eine Ordnungspolitik gedacht ist, welche Menschen mit Immunität gegen den SARS-CoV-2 Erreger in ihrem gesellschaftlichen Lebenswandel anders behandelt als Menschen ohne entsprechende Immunität, ist aber genau das: Eine Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer genetischen Merkmale. Die Einführung einer Immunitätsbescheinigung in der Bundesrepublik Deutschland ist folglich mit der Ethik, die Art. 21 Abs. 1 EU-GRCharta zugrunde liegt, nicht vereinbar. Wohlgemerkt, nicht nur jetzt nicht, sondern auch in Zukunft nicht. Auch dann nicht, wenn eine SARS-CoV-2-Immunität zu einem späteren Zeitpunkt medizinisch feststellbar wäre bzw. garantiert werden könnte. Über diesen kodifizierten ethischen Konsens hat sich der Deutsche Ethikrat nicht hinwegzusetzen, er ist vielmehr an ihn gebunden. Anders gesagt, der Ethikrat hat für seine Stellungnahme keine Ethik auszuarbeiten, die der Bundesregierung im Ergebnis Handlungen erlaubt, die wiederum mit den gemeinsamen (ethischen) Werten der Europäischen Union nicht vereinbar sind. In der EU gibt es nach dem Brexit immerhin noch 27 Mitgliedstaaten, und zwar ziemlich unterschiedliche Mitgliedstaaten. Gerade deshalb darf es keine 27 unterschiedlichen Ethiken geben. Nichtdiskriminierung als gemeinsamer europäischer Wert ist auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht verhandelbar. Ein Ethikrat, der sich diesem Maßstab nicht unterwirft, und zwar bedingungslos, stellt eine sehr ernst zu nehmende Gefahr für eine friedliche Zukunft dar. Sollte die Bundesregierung eine Immunitätsbescheinigung zu einem späteren Zeitpunkt unter Verweis auf die verlautbarte Stellungnahme des Deutschen Ethikrats vom 22. September 2020 einführen, wäre das historisch betrachtet ein (Rück-)Schritt in die Tyrannei. Jede Repressionspolitik öffnet Türen, um einer Gewaltherrschaft, einer Willkürherrschaft, einer Schreckensherrschaft den Weg zu bereiten. Das einzige, was eine Bundesregierung dann noch tun muss, ist durch eine dieser geöffneten Türen hindurch zu gehen und den vor ihr liegenden Weg zu beschreiten. Dazu darf es niemals kommen, nicht in Deutschland, nicht in einem anderen Mitgliedstaat.


Nichtdiskriminierung als gemeinsamer europäischer Wert muss nicht nur in der gesellschaftlichen Struktur, sondern auch in der Gesellschaftsordnung selbst angelegt sein.

Das Wort »Nichtdiskriminierung« kommt in der 55 Seiten umfassenden Stellungnahme des Deutschen Ethikrats nicht vor, nicht ein einziges Mal. Das ist zutiefst irritierend, denn ein zentrales Element der Sozialethik ist es nach Wilhelm Korff—einem der führenden und erst im Jahr 2019 im Alter von 92 Jahren verstorbenen Sozialethiker—, Strukturen und Ordnungen zu bewerten, an denen sich das Handeln der Akteure innerhalb der Gesellschaft ausrichtet. Es besteht überhaupt kein Zweifel, dass nach Korff hierzu auch jenes Handeln gehört, das gerade nicht durch den Willen von Individuen frei gestaltet werden kann. Die Nichtdiskriminierung als gemeinsamer europäischer Wert muss folglich, wenn man Korffs Sozialethik auf die Praxis überträgt, nicht nur in der gesellschaftlichen Struktur, sondern auch in der Gesellschaftsordnung selbst angelegt sein. Eine Immunitätsbescheinigung, die Menschen mit Immunität Freiheitsrechte gewährt (Zwanglosigkeit), Menschen ohne Immunität aber Zwängen unterwirft, spaltet die gemeinsame Gesellschaftsordnung in zwei separate Gesellschaftsordnungen auf. Eine für Menschen, die immun sind, und eine für Menschen, die nicht immun sind. Auf diese Weise wird auf kurz oder lang auch die Gesellschaftsstruktur, sei sie anfänglich noch stabil, sei sie von Anfang an instabil, rücksichtslos zersetzt, bis am Ende nichts mehr von ihr übrig bleibt. Die Metastasen—um einmal eine anschauliche Metapher zu verwenden—, die eine entsprechende Infektionsschutzpolitik mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verursacht, werden bis in die entlegensten Winkel unserer Gesellschaft streuen. Sie werden den Arbeitsmarkt befallen, den gesamten Bildungsmarkt (Primarstufe, Sekundarstufe I und II, Tertiärbereich), sämtliche Konsumgütermärkte (inkl. Freizeitkonsum), das heißt die Hotel- und Gastronomiebranche wird betroffen sein, die Urlaubs- und Reiseverkehrsbranche, Religionsgemeinschaften etc. werden zerfallen, die gesamte Kunst- und Kulturbranche wird zersetzt werden, Freundeskreise und Familien werden zerbrechen, usw. Überall dort wo, in einer Welt mit Immunitätsbescheinigung, Menschen mit Immunitätsstatus auf Menschen ohne Immunitätsstatus treffen, werden letztere von ersteren wie Aussätzige behandelt werden. Und der Staat wird nichts gegen einen derart menschenverachtenden Strukturwandel in unserer Gesellschaft unternehmen, weil er es gewesen sein wird, der den Grundstein dafür gelegt hat. Eine solche Entwicklung ist durch nichts, durch absolut gar nichts zu rechtfertigen, am allerwenigsten durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Interessanterweise ergibt sich auch das bereits aus Art. 21 Abs. 1 EU-GRCharta, denn das Diskriminierungsverbot wurde ohne Einschränkung formuliert, ohne Vorbehalt. Selbst wenn es rein theoretisch eine von null verschiedene Wahrscheinlichkeit dafür gäbe, dass mit einer Immunitätsbescheinigung Menschenleben gerettet werden könnten, dürfte der deutsche Staat sich nicht auf eine Ethik berufen, deren politische Verwirklichung dazu führt, dass Menschen ohne SARS-CoV-2-Immunität in und von der Gesellschaft anders behandelt werden, als Menschen mit SARS-CoV-2-Immunität.


In der Stellungnahme des Deutschen Ethikrats wird weder die Grundrechte-Charta der Europäischen Union namentlich erwähnt, noch die ihr zugrundeliegende Ethik thematisiert, geschweige denn im Detail erläutert. Überhaupt sind weite Teile der Expertise vom rein fachlichen Standpunkt aus, also in ihrer ethischen Substanz und den daraus ableitbaren moralischen Prinzipien, nachgerade von erbärmlicher Qualität. Insbesondere, wenn man bedenkt, dass die Ratsmitglieder nahezu allesamt als Professoren an Hochschulen forschen und lehren und also schon von daher erfahren genug sein sollten, um eine seriöse gutachterliche Stellungnahme auszuarbeiten und ihre darin verschriftlichten Analysen, Schlussfolgerungen und Bewertungen mit Beiträgen aus der einschlägigen Literatur zu unterfüttern. Tatsächlich werden im Literaturverzeichnis der Stellungnahme mit Mühe dreißig Quellen aufgeführt. Bei achtundzwanzig davon (93%) kommt das Wort »Ethik« im Titel nicht vor. Auch haben sie inhaltlich nicht im Entferntesten etwas mit Ethik zu tun. Lediglich zwei Literaturquellen (7%) befassen sich mit ethischen Themen. Ihre Autoren gehören selbst dem Ethikrat an—welch Zufall—und haben folglich ihre eigenen Publikationen dazu verwendet, um ihrer eigenen Argumente zu untermauern. Eine kritisch-rationale Analyse nach wissenschaftlichen Grundsätzen sieht definitiv anders aus.


»Angesichts der dargelegten wissenschaftlichen, ethischen und praktischen Gründe darf eine staatlich kontrollierte Immunitätsbescheinigung im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie nicht für die Wiedergewährung von Freiheitsrechten bzw. das Auferlegen besonderer Verpflichtungen verwendet werden.«

Zwölf der zurzeit insgesamt vierundzwanzig Ratsmitglieder gilt es allerdings in Schutz zu nehmen. Es sind jene, die in der Stellungnahme die »Position B« ausgearbeitet haben. Ihre Namen stehen ganz am Ende dieses Essays.** Sie haben nicht nur das ethische Konflikt- und Zersetzungspotenzial von Immunitätsbescheinigungen erkannt, sondern konsequenterweise auch der mit ihr latent im Raum stehenden, ordnungspolitischen Verwendung eine unmissverständliche Absage erteilt. Wörtlich schreiben sie in der Stellungnahme: »Angesichts der dargelegten wissenschaftlichen, ethischen und praktischen Gründe darf eine staatlich kontrollierte Immunitätsbescheinigung im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie nicht für die Wiedergewährung von Freiheitsrechten bzw. das Auferlegen besonderer Verpflichtungen verwendet werden.« Statt Immunitätsbescheinigungen nur vorläufig nicht zu empfehlen, sprechen sich die hinter Position B stehenden Ethikräte endgültig gegen die diskriminierende Verwendung solcher Bescheinigungen aus—eine schallende Ohrfeige für die Kolleginnen und Kollegen, die zugunsten der im ethischen Abseits stehenden »Position A« votierten. Deren Namen finden sich ebenfalls am Ende dieses Essays.* Mitglieder des Deutschen Ethikrats, die das diskriminierende Wesen von Immunitätsbescheinigungen nicht sofort erkennen und die Bundesregierung darauf aufmerksam machen, müssen damit rechnen, dass ihnen von dritter Seite mangelnder Sachverstand vorgeworfen wird. Und exakt mit diesem Vorwurf sollen die Diskriminierungsapologeten der Position A nunmehr konfrontiert werden.


In den Empfehlungen zu »Position A« heißt es tatsächlich: »Auf die wechselseitige Anerkennung von Immunitätsbescheinigungen innerhalb der Europäischen Union und im Schengen-Raum ist hinzuwirken.« Die Inkompetenz des Position-A-Teams im Ethikrat geht demnach soweit, dass man der Bundesregierung sogar ins Pflichtenheft schreibt, sie möge auf supranationaler Ebene, auf Ebene der EU also, für die Anerkennung einer deutschen Immunitätsbescheinigung werben. Wenn man als nationaler Sachverständigenrat in Fragen der Ethik eine Empfehlung mit supranationaler Reichweite abgibt, ist man zweifelsohne gut beraten die Ethik der supranationalen Ebene zu analysieren, und zwar bevor man die Empfehlung abgibt. Schon allein um sich einen Faux pas zu ersparen, dessen öffentliches Bekanntwerden im Nachgang immer peinlich ist, weil dadurch berechtigte Zweifel an der eigenen fachlichen Expertise aufkommen. Und im vorliegenden Fall sind solche Zweifel sogar mehr als berechtigt, wie sich gleich zeigen wird. An anderer Stelle heißt es nämlich: »Der Einsatz von Immunitätsbescheinigungen sollte weder einseitig als unbedingt freiheitsrechtlich geboten noch als a priori diskriminierend angesehen werden.« Eine grundsätzliche (a priori) Diskriminierung will das Team hinter Position A also selbst nicht erkennen, weshalb sie auch Dritten von einer solchen Erkenntnis abraten. Mit Blick auf Art. 21 Abs. 1 EU-GRCharta kann man dazu nur noch sagen, wer so etwas schreibt, hat entweder noch nie in seinem ganzen Leben die Grundrechte-Charta der Europäischen Union gelesen und sich mit ihrer Ethik auseinandergesetzt oder aber es schert ihn schlicht und ergreifend nicht, was drin steht. In beiden Fällen ist ein sofortiger Rücktritt der betreffenden zwölf Mitglieder von allen ihren Ämtern im Deutschen Ethikrat mangels hinreichender fachlicher Kompetenzen überfällig. Die Spitze des Eisbergs ist das aber immer noch nicht. In einer Art Limbus der Widersprüche müssen sich die Leser der Stellungnahme schlussendlich angekommen glauben, wenn sie jene beiden oben im Wortlaut zitierten Passagen im Kontext zweier nachstehender Textstellen aus »Position A« ventilieren. Sie lauten:


  1. »Zudem wird befürchtet, dass die Einführung von Immunitätsbescheinigungen diejenigen diskriminieren oder stigmatisieren könnte, die keine Immunität nachweisen können, etwa in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Dabei könnten auch neue Formen der Ausgrenzung entstehen und soziale Spannungen vertieft werden.«

  2. »Es wird daher skeptisch beurteilt, ob die freiheitseröffnenden und gegebenenfalls verpflichtenden Maßnahmen, die mit Immunitätsbescheinigungen einhergehen sollen, sachgerecht begrenzt und somit auch problematische gesellschaftliche und systemische Konsequenzen verhindert werden können.«


Gerade eben noch hat das Team hinter »Position A« in der Stellungnahme eine Ethik vertreten, nach welcher Immunitätsbescheinigungen a priori niemanden diskriminieren, weshalb ihres Erachtens eine wechselseitige Anerkennung auf supranationaler Ebene zu befürworten sei. An anderer Stelle aber befürchten dieselben Ethikräte, »dass die Einführung von Immunitätsbescheinigungen diejenigen diskriminieren oder stigmatisieren könnte, die keine Immunität nachweisen können.« Das findet sich wohlgemerkt beides in derselben Stellungnahme unter »Position A«. Es genügt scheinbar nicht, dass eine Hälfte des Deutschen Ethikrats eine Position erarbeitet, die der Position der anderen Hälfte des Ethikrats widerspricht. Ganz offensichtlich, einen anderen Schluss lässt die Lektüre solcher Textpassagen kaum zu, ist das Position-A-Team sogar untereinander derart zerstritten, dass es sich in seiner eigenen Position selbst widerspricht. Der Gipfel der Ambivalenz, die Spitze des Eisbergs sozusagen, dürfte jedoch erreicht sein, wenn die Regierungsberater dann auch noch ihre Skepsis darüber zum Ausdruck bringen, dass man freiheitsöffnende Maßnahmen sachgerecht begrenzen könne, was ihres Erachtens wiederum zur Folge habe, dass die problematischen gesellschaftlichen und systemischen Konsequenzen, die sich daraus ergäben, nicht mehr zu verhindern seien. Spätestens an dieser Stelle, mag sich jeder aufmerksame Leser, selbst der fachlich nicht vorgebildete, fragen, warum die Ethikräte diesen Aspekt skeptisch betrachten, wenn der Einsatz von Immunitätsbescheinigungen ihren eigenen Einschätzungen zufolge nicht als a priori diskriminierend angesehen zu werden braucht? Entweder es geht eine a priori diskriminierende Wirkung von Immunitätsbescheinigungen aus, dann kann man ihren Einsatz als Mitglied des Deutschen Ethikrats nicht nur nicht empfehlen, sondern dann muss man ihrem Einsatz eine kategorische Absage erteilen. Oder aber es geht keine solche diskriminierende Wirkung von Immunitätsbescheinigungen aus, dann erübrigt sich jede, aber auch wirklich jede Skepsis in Bezug auf sachgerechte Begrenzungen etwaiger gesellschaftlicher und systemischer Konsequenzen. Von außen betrachtet zwingt sich einem der Verdacht auf, man habe mit großer Kraftanstrengung zu verhindern versucht, dass sich einzelne Ratsmitglieder aus dem Position-A-Team herauslösen und zu allem Übel auch noch eine dritte »Position C« für die »gemeinsame« Stellungnahme formulieren. Doch es wäre wenig ergiebig diesbezüglich weitere Spekulationen anzustellen. Fakt ist, »Position A« stellt keine in sich geschlossene, stimmige Position dar, sie ist voller Widersprüche. Diese Tatsache wie auch die oben erwähnte, offen zutage getretene Unkenntnis in Fragen der Nichtdiskriminierung, lässt erhebliche Zweifel am sozialethischen Sachverstand der Ratsmitglieder hinter dieser Position aufkommen.


Regierungsberater sind nicht unabhängig, wenn sie über eine politische Maßnahme zu befinden haben, von der sie im Umsetzungsfall höchstpersönlich betroffen wären.

Zu allen diesen hier dargelegten Verwerfungen im Deutschen Ethikrat (Spaltung, Inkompetenz) gesellt sich noch ein weiteres, drittes Problem, welches bislang selbst von Fachkundigen kaum erkannt worden ist. Gerade deshalb soll es nunmehr kurz angeschnitten werden. Rein institutionell betrachtet ist der Deutsche Ethikrat von jedem Exekutivorgan (Bundesregierung, Bundesministerien etc.) unabhängig (§ 1 EthRG). Dies gilt selbstverständlich auch für jedes einzelne Ratsmitglied (§ 3 EthRG). Verhaltenspsychologisch sieht die Sache jedoch anders aus. Von der Einführung einer Immunitätsbescheinigung in Deutschland wären sämtliche Mitglieder des Deutschen Ethikrats selbst betroffen. Betrachtet man also den Untersuchungsgegenstand der einflussreichsten Regierungsberater in Ethikangelegenheiten hierzulande, sowie die ordnungspolitischen Konsequenzen ihrer Beratungsleistung, zeigt sich, dass der Deutsche Ethikrat alles andere als unabhängig ist. Regierungsberater sind nun einmal nicht unabhängig, wenn sie über eine politische Maßnahme zu befinden haben, von der sie im Umsetzungsfall höchstpersönlich betroffen wären.

Unterstellt man, dass die Ratsmitglieder im Alltag grosso modo dieselben Verhaltensmuster aufweisen wie ihre 83 Mio. Mitmenschen außerhalb des Ethikrats, ist anzunehmen, dass die individuelle Expertise eines jeden Ratsmitglieds auch mit dessen persönlicher Risikoneigung korreliert ist. Risikoaffine Mitglieder, also solche, die ihre persönliche Infektionssterblichkeit tendenziell als »gering« einschätzen, werden die Einführung von Immunitätsbescheinigungen vermutlich eher ablehnen/nicht befürworten. Nach ihrer Wahrnehmung ist ein paternalistischer Infektionsschutz inkl. staatlichen Impfprogramms nicht geboten. Mit anderen Worten, den (negativen) Nutzen repressiver Eingriffe des Staates in die Grundrechte der Staatsbürger, also auch in ihre eigenen, gewichten sie stärker als den Nutzen, der nach ihrer Erwartungshaltung einer Immunitätsbescheinigung innewohnt. Risikoaverse Mitglieder indes, also solche, die ihre persönliche Infektionssterblichkeit als »hoch« einschätzen, werden die Einführung von Immunitätsbescheinigungen in der Tendenz eher befürworten. In deren Wahrnehmung sind die Vorzeichen beider oben beschriebenen Nutzen (Infektionssterblichkeit vs. Immunitätsbescheinigung) genau umgekehrt. Lediglich jemand mit einer neutralen Risikoneigung, also jemand, dem es egal ist, ob er nach einer SARS-CoV-2-Infektion erkrankt und hospitalisiert werden muss, und das möglicherweise sogar erfolglos, dürfte im vorliegenden Kontext gemeinhin als »unabhängiger« Berater gelten. Doch wie hoch mag die Wahrscheinlichkeit sein, dass 26 Regierungsberater geschlossen über eine neutrale Risikoneigung verfügen? Genau! Die Vorstellung vom unabhängigen Ethikrat ist somit ziemlich naiv.


Noch einmal: »Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen«. Mit diesen Worten beginnt die Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Die Nichtdiskriminierung ist nur einer davon, ein einziger, gemeinsamer Wert von vielen. Aber für unseren Umgang miteinander, für unsere Achtung, die wir voreinander als Angehörige derselben Spezies haben sollten, um der Bezeichnung »Zivilisation« wenigstens annähernd gerecht werden zu können, dafür, dass wir einander mit Würde begegnen können während wir Teil einer Gesellschaft sind, dafür ist dieser einzelne, gemeinsame Wert unermesslich wertvoll. Wenn wir ihn missachten, werden wir ihn verlieren, womöglich für immer. Dann wären wir in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs zwar einen weiten Weg gemeinsam gegangen, letzten Endes aber nur dort wieder angekommen, wo wirklich kein Mensch mit Verstand mehr ankommen wollte: in der Tyrannei.





 

¹ Gemeint ist der Eingriff in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), um im Wege der Impfung eine Immunität herbeizuführen.





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